E I N S S E I N   M I T   G O T T 
F a c e t t e n   d e r   M y s t i k

Mystik


„Sie verlangen zu wissen, was man eigentlich durch die Mystik oder mystische Theologie verstehe. Ich antworte: Das kann keiner recht sagen oder er muss selbst ein Mystikus sein, und keiner gebührend verstehen, wo er nicht selbst auf dem Wege ist, ein solcher zu werden.“
Gerhard Tersteegen (1697 – 1769)
(Tersteegen 2011, S. 33)

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Der Begriff „mystisch“ taucht in religiösem Bezug wohl zuerst im Christentum, beispielsweise bei dem christlichen Gelehrten und Theologen Origenes (185 – 254 n. Chr.) auf. Er leitet sich von dem griechischen Wort „myein =  (die Augen) schließen“ ab und soll zunächst „etwas Geheimnisvolles“ ausdrücken.
(Sudbrack 2002, S. 16; Bouyer 1974, S. 57 ff.)
Seine speziellere Bedeutung als „Erfahrung Gottes und Vereinigung mit ihm” erhielt er insbesondere durch die Werke von (Pseudo-)Dionysius Areopagita (um 500 n. Chr.). In seiner Schrift „Mystische Theologie“ schreibt er an „Timotheus“:
„Übe dich angespannt in mystischer Schau, verlass die Sinneserkenntnis und die Verstandestätigkeit, alles Sinnenfällige und geistig Fassbare, alles Seiende und Nichtseiende, und erhebe dich, soweit es möglich ist, ohne Erkenntnis zur Vereinigung mit Dem, der über allem Wesen und Wissen ist. Durch freie, vollkommene, reine Loslösung von dir selbst und allen Dingen wirst du zu dem über-seienden Strahl der göttlichen Dunkelheit gelangen, wenn du alles abgestreift hast und von allem befreit bist.“
(Dionysius und Stein 2015, S. 11)
Hier ist also von „mystischer Schau“ und einer „Vereinigung mit Dem, der über allem Wesen und Wissen ist“ die Rede. Und diese „Vereinigung“ macht das aus, was wir heutzutage unter dem Wesen der Mystik, christlich und religionsübergreifend, verstehen.

So lautet die Definition des Begriffes Mystik im „Wörterbuch der Religionen“ von Alfred Bertholet:
„Mystik ist die Aufhebung des religiösen Ich-Du-Verhältnisses …, d.h. Aufgehen des Menschen in Gott oder im Göttlichen (unio mystica), ja vielleicht in etwas, was noch hinter Gott liegt, einem »Leeren« oder »Nichtseienden«“
(Bertholet und Goldammer 1985, S. 411
Etwas allgemeiner umschreibt Peter Dinzelbacher  „Mystik“ in seinem „Wörterbuch der Mystik“ „als das Streben des Menschen nach unmittelbarem Kontakt mit Gott vermittels persönlicher Erfahrung schon in diesem Leben sowie seine Empfindungen und Reflexionen auf diesem Weg und  endlich die Erfüllung dieses Strebens. Letzteres besteht in der stets kurzfristigen Aufhebung des Unterschiedes zwischen dem Subjekt des Strebens, der menschlichen Seele, und dem Objekt, das angestrebt wird, Gott.
(Dinzelbacher 1998, S. VII f.?
Dionysius Areopagita beschreibt bereits genauer die Stufen auf dem Wege zu Gott: die Reinigung, die Erleuchtung und die Vollendung bzw. Vereinigung.
(Dionysius und Stein 2015, S. 12 f.; S. 127)
Und Timotheus rät er am Anfang seines Buches „Mystische Theologie“:
Übe dich angespannt in mystischer Schau, verlass die Sinneserkenntnis und die Verstandestätigkeit, alles Sinnenfällige und geistig Fassbare, alles Seiende und Nichtseiende, und erhebe dich, soweit es möglich ist, ohne Erkenntnis zur Vereinigung mit Dem, der über allem Wesen und Wissen ist.“
(Dionysius und Stein 2015, S. 11)
Diese Dreiteilung des mystischen Weges findet sich bei vielen Mystikern aus den verschiedensten Kulturkreisen, wobei immer die Erfahrung, nicht die verstandesmäßige Erkenntnis im Mittelpunkt steht.

Die höchste Stufe dieses Weges, die Vereinigung mit Gott bzw. dem Göttlichen, wird im Allgemeinen als „unio mystica“ bezeichnet.

Auch wenn dieser Begriff aus der christlichen Überlieferung stammt und sich erst vor ca. 2000 Jahren bildete, so reichen die Aussagen der Menschen, die diesen Zustand zumindest kurzzeitig erlebt haben, über Jahrtausende zurück und in fast alle religiösen Traditionen hinein – wobei deren Berichte über ihre Erfahrungen in diesem Zustand sich in erstaunlicher Weise ähneln.

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„Das mystische Bewusstsein könnte beschrieben werden als eine Dimension des Erfahrens, in der alles so ist, wie es ist, und so, wie es ist, auch vollkommen ist. Dort ist man nicht glücklich und nicht unglücklich, nicht zufrieden oder unzufrieden, nicht froh und nicht traurig. Frohsein wäre bereits ein Weniger, genauso Traurigsein. Es gibt keine Seligkeit, kein Glück im Sinne eines Gefühls. Alle anderen Bewusstseinsebenen erscheinen neben der mystischen Einheitserfahrung relativ. Sie sind vorläufig und unerfüllt.

In dieser transrationalen Bewusstseinsebene sind Form und Formlosigkeit eins. Es ist die Erfüllung all unserer Sehnsüchte. Es gibt dort nicht Subjekt und Objekt, sondern nur Sein. Dort erfährt der Mensch seinen göttlichen Urgrund und er ist geneigt zu sagen: »Ich bin Gott.« Dieses Wort enthält jedoch keinerlei Arroganz. Darin ist kein Ich. Es ist vielmehr getragen von einer ungeheuren Demut und begleitet vom Bedürfnis, allen Lebewesen zu dieser Erfahrung zu verhelfen.«“
(Willigis Jäger, 1925 - 2020)
(Jäger 2013, S. 37)