Thomas von Aquin
(1225 – 1274)
Am Nikolaustag, dem 6. Dezember des Jahres 1273, machte Thomas von Aquin (1225 – 1274) im Alter von 48 Jahren, drei Monate vor seinem Tode, offenbar eine Erfahrung, die sein Leben grundlegend veränderte. Nachdem er an diesem Tag wie üblich früh morgens die Messe gefeiert hatte und in seine Zelle zurückgekehrt war, weigerte er sich fortan, an seinem monumentalen Werk, der „Summe der Theologie“ (summa theologiae), weiterzuschreiben, und auch seitdem hat er bis zu seinem Lebensende nie wieder etwas geschrieben oder auch nur diktiert.
Thomas von Aquin gilt als einer der bedeutendsten Theologen und Kirchenlehrer des Mittelalters, und seine „Summe der Theologie“ ist sein Hauptwerk, an dem über sieben Jahre lang geschrieben hat, das viele hundert Seiten umfasst und in dem er das gesamte theologische Wissen seiner Zeit zusammenstellt. Mitten im 90. Kapitel des dritten Teils, bei seinen Abhandlungen über das Bußsakrament, seinen Gedanken zum Nachlass von Todsünden und lässlichen Sünden, bricht er an diesem Tag seine schriftstellerische Tätigkeit ab. Und auf die Frage seines dominikanischen Ordensbruders Reginald, weshalb er an seinem großen Werk nicht weiterschreibe, antwortete er:
„Versprich mir bei dem lebendigen, allmächtigen Gott und bei deiner Treue zu unserem Orden und bei deiner Liebe zu mir, dass du niemals, solange ich lebe, das verraten wirst, was ich dir nun sage. Alles, was ich geschrieben habe, kommt mir wie Stroh vor im Vergleich zu dem, was mir jetzt offenbar worden ist.“
(Weisheipl und Kirstein 1996, S. 294) (s. auch Pieper 2014, S. 23 und S. 157; Leppin 2017, S. 21 f.)
Thomas von Aquin hatte bis zu diesem Zeitpunkt über vierzig umfangreiche Bände mit theologischen Abhandlungen verfasst – und nun vergleicht er all seine Schriften mit Stroh, mit ausgedroschenen, inhaltsleeren Halmen gegenüber dem, was ihm augenscheinlich während der Messe offenbart worden ist.
An früherer Stelle in seiner „Summe der Theologie“ beschreibt er zwei unterschiedliche Zugänge zur Güte Gottes: den spekulativen Zugang (cognitio divinae speculativa), der durch reines Nachdenken gewonnen wird, und den experimentellen Zugang (cognitio divinae experimentalis), bei dem Gott unmittelbar erfahren wird (Thomas von Aquin, IIª-IIae q. 97 a. 2 ad 2). Und nun erscheint es so, als seien seine umfangreichen theologischen Erkenntnisse, die von ihm durch reines Nachdenken erworben wurden, völlig unbedeutend gegenüber denjenigen, die er an diesem Tage durch unmittelbare Erfahrung gewonnen hat.
Was Thomas von Aquin an diesem Nikolausmorgen auch immer erfahren haben mag – in den letzten Monaten seines Lebens hat er offenbar niemals mehr mit irgendjemand darüber gesprochen. Vielleicht hat er ein Erlebnis gehabt wie Paulus, als dieser in das Paradies entrückt wurde und „unaussprechliche Worte [hörte], die kein Mensch sagen kann“ (2. Korinther 12,4). Vielleicht hat er zumindest für einen kurzen Augenblick eine Art „unio mystica“, eine Einheit mit Gott erfahren, in der ihm himmlische Wahrheiten offenbart worden sind, gegen die alle irdischen Weisheiten gleichsam nur Stroh sind.
Diese „unio mystica" ist immer wieder von Menschen der verschiedensten Kulturen und Zeiten erlebt und beschrieben worden – wenn auch begrifflich in die jeweilige Tradition eingebettet -, wobei diese stets betonen, dass die dort gewonnenen Einsichten und Erfahrungen im Grunde nicht mitteilbar, nicht in menschliche Worte fassbar sind.