Buddhismus
„Der Buddhist erfährt in der Erleuchtung zwar das tiefste Selbst, aber als eins mit dem absoluten Sein. Er wird dadurch in seinem Glauben an die vollkommene Einheit allen Seins bestärkt.
Der Christ — oder wer an einen persönlichen Gott glaubt — erfährt das Selbst nicht nur in sich, sondern auch in seiner Beziehung zum absoluten Sein. Er erfährt Gott in seinem Selbst. Die christliche Gotteserfahrung geht über das Selbst. Daher wird das Selbst nicht in das Absolute ,eingeschmolzen'. Im Gegenteil: Die Gotteserfahrung ist für den Christen die Vollendung seiner Persönlichkeit.
Meister Eckhart sagt: ≪Da ist Gott mein Grund und mein Grund Gottes Grund≫." Damit ist die für die christliche Mystik typische Liebesvereinigung mit Gott angesprochen.
Beide, der Buddhist und der Christ, fühlen sich in ihrer Erfahrung von Furcht und Zweifel befreit und erfüllt von tiefem Frieden und höchster Freude. Die Beziehung zum Absoluten ist in beiden Fällen wesentlich vorhanden ... Es nimmt daher nicht wunder, dass man das Phänomen der Erleuchtung in ähnlicher Weise zu allen Zeiten und in allen Religionen gefunden hat und auch noch findet.“
Enomiya Lassalle (1898 - 1990)
(nach Enomiya-Lassalle und Wehr 1991, S. 125)
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Der Ochs und sein Hirte
Der Weg zum Selbst und das Leben des Erleuchteten wird sehr anschaulich in der Geschichte „Der Ochs und sein Hirte“ verdeutlicht, einer zehnteiligen Bilderfolge mit Kommentaren, die ursprünglich von Kuo-an, einem chinesischen Zen-Meister aus dem 12. Jahrhundert stammt und die im Laufe der Jahrhunderte immer wieder neu gezeichnet, gedeutet und kommentiert wurde.
Diese Bilderfolge stellt den langen Weg des Zen-Schülers zur Erleuchtung, zum „Selbst“, zur Verwirklichung seiner eigenen wahren Natur dar. Es ist die Geschichte eines Hirten, der seinen Ochsen verloren hat, ihn sucht und ihn wiederfindet, wobei der Ochse in der buddhistischen Tradition für das ewige Lebensprinzip, für das eigene innere Selbst steht, das in etwa im Daoismus dem Dao, im Hinduismus Atman bzw. Brahman und in der christlichen Mystik bei Meister Eckhart vielleicht dem Seelenfünklein bzw. dem Gott in uns entspricht.
1. Bild: Die Suche nach dem Ochsen
Der Hirte hat den Ochsen, sein eigenes inneres Selbst, verloren und steht allein und verlassen in endloser Wildnis.Hierzu der Kommentar von Kuo-an:
„Der Ochse ist nie verlorengegangen. Wozu sollte man ihn dann suchen? Nur wegen der Trennung von meiner wahren Natur finde ich ihn nicht. In der Verwirrung der Sinne habe ich sogar seine Spur verloren.“
(Reps und Olvedi 1998, S. 168)
2. Bild: Das Finden der Ochsenspur
Er sucht nach dem Ochsen. Durch Lesen religiöser Texte und Hören der Lehren erahnt er etwas vom Sinn der Wahrheit - er hat die Spur des Ochsen entdeckt.
3. Bild: Das Finden des Ochsen
Er geht der Spur nach und sieht („hört“) den Ochsen, „aber noch ist es nur ein fernes, intellektuelles Wissen oder intuitives Fühlen um den Ochsen.“
(Dumoulin 1976, S. 176)
4. Bild: Das Fangen des Ochsen
Er fängt den Ochsen und züchtigt ihn mit der Strenge der Peitsche.
5. Bild: Das Zähmen des Ochsen
Er zähmt den Ochsen und weidet ihn, ohne die Peitsche und die Zügel einen Augenblick loszulassen.
„Diese zwei Stufen beinhalten die Übung in der Zen-Halle, die harte, peinvolle Übung bis zum Erfassen der Erleuchtung und die unabdingbare Übung des Erleuchteten.“
(Dumoulin 1976, S. 176)
6. Bild: Die Heimkehr auf dem Rücken des Ochsen
Der Kampf ist beendet, der Hirte kehrt heim auf dem Rücken des Ochsen, gelassen und in Muße. „Die Freude des Hirten und der erhobene Kopf des schon nicht mehr nach Gras gierenden Tieres zeigen die erlangte volle Freiheit an.“
(Dumoulin 1976, S. 176)
7. Bild: Der Ochs ist vergessen, der Hirte bleibt
Der Ochse ist verschwunden, denn Hirte und Ochse sind nun eins. „Der Hirte in seiner Freiheit bedarf nicht mehr des »Ochsen«, er vergisst ihn, wie […] Falle und Netz unnütz werden, wenn der Hase und der Fisch gefangen sind. So ist der Hirte allein, ohne den Ochsen.“
(Dumoulin 1976, S. 176)
Der Mensch hat sein inneres Selbst gefunden, er kommt zur Erleuchtung (Satori) und verweilt in der Kontemplation, der ungestörten Betrachtung des Höchsten.
8. Bild: Die vollkommene Vergessenheit von Ochs und Hirte
Alle weltlichen Begierden sind abgefallen. Nun verschwindet auch die eigene Person. „Nun verschwinden beide, Ochs und Hirte, im gründenden und umfassenden Nichts des Kreisrunds“. (Dumoulin 1976, S. 176)
In der Sprache der christlichen Mystik verschmilzt die Person in der mystischen Vereinigung, der unio mystica, mit dem bildlosen All-Ich, der allum-fassenden Gottheit.
9. Bild: Zurückgekehrt in den Grund und Ursprung
Aber die Welt erscheint wieder. Nun sind alle Dinge um den Hirten so, wie sie sind – ohne noch an der Welt zu haften, beschaut er in der Stille ruhend den Wandel aller Dinge.
10. Bild: Das Hereinkommen auf den Markt mit offenen Händen
Der erleuchtete Hirte kehrt wieder in die Welt zurück, frei von allen weltlichen Wünschen und Gedanken. Er kommt herein in die Stadt und auf den Markt und wendet sich den Menschen zu mit segenspendenden Händen, um sie aus seiner inneren Fülle zu beschenken – und jeder, den er anschaut, wird erleuchtet.
Er „lebt mit allen seinen Mitmenschen und wie alle seine Mitmenschen, aber die Güte, die er ausstrahlt, rührt von seiner Erleuchtung her“.
(Dumoulin 1976, S. 176 f.)
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Die Parabel von der Erdbeere
Die folgende Zen-Parabel von einem Erleuchteten, der „Satori" erfahren und die Einheit verwirklicht hat, geht auf ein Sutra (Lehrrede) des Buddha zurück:
„Ein Mann, der über eine Ebene reiste, stieß auf einen Tiger. Er floh, den Tiger hinter sich. Als er an einen Abgrund kam, suchte er Halt an der Wurzel eines wilden Weinstocks und schwang sich über die Kante. Der Tiger beschnupperte ihn von oben. Zitternd schaute der Mann hinab, wo weit unten ein anderer Tiger darauf wartete, ihn zu fressen. Nur der Wein hielt ihn.
Zwei Mäuse, eine weiße und eine schwarze, machten sich daran, nach und nach die Weinwurzel durchzubeißen. Der Mann sah eine saftige Erdbeere neben sich. Während er sich mit der einen Hand am Wein festhielt. pflückte er mit der anderen die Erdbeere. Wie süß sie schmeckte!“
(Reps und Olvedi 1998, S. 40 f.)